Sigrun Köhler und Wiltrud Baier, Absolventinnen Dokumentarfilm

„Nur wenn wir beide etwas gut finden, dann ist es meist wirklich gut.“

„Dokumentarfilm ist wie ein feiner Schnaps:  Monate, oft Jahre oder mehr an Dreharbeiten, Schnitt und Lebenszeit werden zu 90 Minuten verdichtet, zu einem Destillat, das manchmal berauschend sein kann...“ Sigrun blinzelt in das Sonnenlicht.
Es ist ein heißer Sommertag, und es sitzen mir Sigrun Köhler und Wiltrud Baier am Marienplatz in Stuttgart gegenüber. Zusammen produzieren sie unter dem Namen Böller & Brot seit mehr als 16 Jahren preisgekrönte Dokumentarfilme. Der präzise, humorvolle Blick auf die Menschen und ihre Geschichten zeichnet die Filme von Böller & Brot aus. Das liegt nicht zuletzt an ihrer außergewöhnlichen Art der Zusammenarbeit. Sie sind Autorinnen und Regisseurinnen gleichermaßen und machen auch sonst alles selbst, sogar die Postkarte zum Film.

Ganz zu Anfang machte die gebürtige Erlangerin Wiltrud eine Konditoren-Ausbildung in einem Café in München, das viel von Schauspielern und Studierenden der dortigen Filmhochschule besucht wurde. Sie wurde als Co-Autorin und Co-Regisseurin für einen HFF-Kurzspielfilm engagiert. „Also eine traumhafte Karriere aus der Backstube.“ Wiltrud lacht.

Sigrun hatte sich vor ihrem Studium an der Kunstakademie Stuttgart mit Daumenkinos beworben. Sie hatte eine Berufsausbildung zur Druckvorlagenherstellerin/Grafikerin. Prof. Albrecht Ade, der im dortigen Gremium saß, meinte, sie solle sich doch besser an der Filmakademie bewerben. Zunächst studierte Sigrun dort Kamera und wechselte dann zum Dokumentarfilm.
Auch Wiltrud kam über Umwege zum Dokumentarfilm. Nach dem Grundstudium an der Filmakademie machte sie ihr Diplom 1999 im Fachbereich Animation.
„Ich wollte in meinem Studium möglichst alle Genres ausprobieren, und der Dokumentarfilm hatte mir noch gefehlt.“ Glücklicherweise suchte Sigrun gerade eine Kamerafrau für ihren Diplomfilm. Beim ersten gemeinsamen Dreh probierte Wiltrud die Wirkung einer leicht aus der Waagerechten gekippten Bild-Kadrage aus. „Das fand Sigrun gar nicht gut“, schmunzelt Wiltrud. “Ich wollte experimentieren, unsere Sehgewohnheiten und unsere Wahrnehmung als Zuschauer hinterfragen. Da ich selber nicht Dokumentarfilm studiert habe, also gar keine Idee davon hatte, habe ich den Dokumentarfilm für mich selber erfunden.“

Diese freie, unverkrampfte Herangehensweise stellte sich als ein absoluter Glücksfall heraus und ließ ihr erstes gemeinsames Filmprojekt entstehen. Der Beginn einer bis heute andauernden Zusammenarbeit. „Für mich ist das Wertvollste am Filmstudium, dass man Leute trifft, mit denen man etwas gemeinsam hat und gemeinsam an einer Vision arbeiten kann“, findet Wiltrud. Der Diplomfilm thematisiert das Vergehen von Zeit, angeknüpft an das Leben und den Alltag von Sigruns 100-jährigem Großvater. „Mein Opa sprach einen sehr starken hohenlohischen Dialekt, und die Dozenten konnten sich nicht vorstellen, dass daraus ein Film werden kann. Wir mussten einen Trailer schneiden, um sie zu überzeugen.“ Es entstand der essayistische Kurzfilm HOW TIME FLIES, der auf Festivals extrem erfolgreich wurde und den Weg für ihr bekanntes Dokumentarfilmdebüt SCHOTTER WIE HEU ebnete. Ein Porträt über ein Dorf mit der kleinsten Bank Deutschlands. „Wir dachten, dass nach diesem Erfolg massenhaft Produktionsfirmen mit uns arbeiten wollen. Es kamen aber keine. Wahrscheinlich hatten wir schon so eine Aura, dass wir am liebsten selbst produzieren.“

Auch in der Drehphase sind sie ausschließlich zu zweit unterwegs und ergänzen sich. „Ich mag stehende Einstellungen, man nennt mich auch ‚das lebende Stativ’.
Sigrun ist gut in bewegter Kameraarbeit und im Umgang mit Licht.“
Sigrun ergänzt: „Wir haben eine ähnliche Vorstellung von Humor.“ Das sei wichtig bei ihrer Arbeit: „Wir spielen z.B. gern mit der Erwartungshaltung des Zuschauers. Humor schafft eine Distanz und ermöglicht einen neuen Blick auf die Dinge.“
Bei ALARM AM HAUPTBAHNHOF, ihrem mit dem Grimme-Preis ausgezeichneten Dokumentarfilm über Stuttgart 21, gab z.B. der Schlichter Heiner Geißler eine Pressekonferenz am Hauptbahnhof. „Die Kamerateams zahlloser Sender umringten ihn derart, dass niemand verstehen konnte, was er sagte. Wir haben in dieser Situation für unsere Aufnahme den Fokus verschoben: Geißler spricht, aber nur im Bild, im Ton haben wir die Umstehenden OFF aufgenommen, die sich drüber beklagen, dass man eben nichts versteht. ’Dann müssen wir uns das halt nachher im Fernseher ansehen. Aber da ist’s dann wieder zusammengeschnitten.’“

Die Vorteile, nur zu zweit zu drehen, überwiegen ganz klar, findet Sigrun. Man kann sich blind vertrauen und weiß genau, dass der andere immer die richtigen Bilder oder Töne findet. „Nur wenn wir beide etwas gut finden, dann ist es meist wirklich gut. Man braucht ja viele gute Ideen für so einen Film.“
In ihren Filmen versuchen sie so offen wie nur möglich zu sein und lassen auch den Zufall zu: „Im Dokumentarfilm geht es immer um die Frage: Was ist echt? Was ist Wahrheit? Wir sind in unseren Filmen sehr ehrlich mit der Tatsache, dass es ein Film ist, dass es unser Blick ist. Man merkt, dass eine Kamera da ist. Und trotzdem versuchen wir eine Allgemeingültigkeit zu erreichen. In einem übergeordneten Sinne von Wahrheit.“ Sigrun bekräftigt: „Ich liebe Dokumentarfilme, bei denen die Macher nicht schon vorher eine feste Meinung haben, für die sie dann nur noch Bilder suchen. Nur dann können Dinge passieren, die sowohl den Zuschauer als auch den Filmemacher überraschen.“ Diese ungeplanten, magischen Momente begeistern auch Wiltrud: „Dass man dem normalen Lebensfluss der Zeit einen Teil entreißt und festhält und dann selber erstaunt ist, dass man das wirklich aufnehmen konnte. Also wie am Beispiel von Geißlers Pressekonferenz, dass man sofort erkennt, wo und warum etwas interessant ist und wie man es aufnehmen muss.“

Bevor wir uns verabschieden, verrät Wiltrud noch den Hintergrund für den Namen Böller & Brot: „Ich mochte schon immer Sprengungen. Explosionen, gefilmt in Slow Motion. Diese elektrisierende Mischung von Zerstörung und Ästhetik. Volker Engel, später Oscar-Gewinner für Spezialeffekte, hat mir übrigens für meine erste Regieübung an der Filmakademie ein Telefon in die Luft gesprengt. Aber das ist eine andere Geschichte. Für den Namen hat uns dieser Aufruf an Silvester ‚Brot statt Böller’ inspiriert. Wir wollen - im Übertragenen Sinn - für unsere Filmarbeit beides, Spaß und Ernst: Böller UND Brot.“

Autorin: Caroline Reucker