NATALIA DITTRICH, ABSOLVENTIN FILMMUSIK (2005)
„Weinen Sie doch nicht, es wird alles gut!“
„Als Kinder mussten wir zuhause oft Stücke zur Übung komponieren. Damals hat das genervt, aber im Nachhinein hat es sich als nützlich erwiesen“, erzählt Natalia Dittrich und lacht. Als erste Frau studierte sie Filmmusik an der Filmakademie Baden-Württemberg. „Viele Frauen gibt es ja bisher in der Filmmusik leider nicht, daher waren bei mir erst mal alle sehr skeptisch. Aber ich habe mich gut durchgeschlagen.“
Natalia Dittrich wurde im russischen Teil Kareliens geboren, wuchs dort auf und studierte in Russland zunächst Violine. Über Kontakte zu deutschen Orchestern lernte sie 1996 die deutsche Musiklandschaft kennen und zog 2000 nach Deutschland, um ihr Violine-Studium fortzusetzen. „Ich kam nach Ludwigsburg, weil ich an der Musikhochschule Stuttgart weiterstudieren wollte. Da hatte ich sofort ein Déjà-vu: Nach neun Jahren Musikstudium in Russland hatte ich in Stuttgart das Gefühl, dass sich alles zu wiederholen schien. Ich war auf der Suche nach etwas Neuem. Zu der Zeit erfuhr ich auch von der Filmakademie und der Möglichkeit, dort Filmmusik studieren zu können.“
Mit ihrem Studienbeginn an der Filmakademie konnte Natalia Dittrich direkt loslegen. „Ich war ganz schnell integriert, habe schon in meinem ersten Jahr die Musik für Diplomfilme komponiert, und es hat unheimlich viel Spaß gemacht.“ Im kreativen Umfeld der Filmakademie habe sie sich sehr wohlgefühlt. „Die Atmosphäre an der ‚Aka’ habe ich als sehr bunt erlebt, ganz anders als ein ‚normales Studium’. Man musste sofort mit der praktischen Arbeit beginnen, das hat mir sehr gut gefallen.“ Das Campusleben sei von einem besonders starken Zusammenhalt geprägt, so Dittrich. „Man fühlt sich von Anfang an wie in einer großen Familie, Langeweile kommt nie auf, und es geht immer etwas voran, das ist toll. Ich möchte meine Studienzeit dort wirklich nicht missen.“
Durch die Kurse, Projekte und Kontakte, die sie über die Filmakademie bekommen habe, sei sie optimal auf die Filmbranche vorbereitet worden, sagt sie. „Ich kann die Filmakademie und ein Studium dort nur jedem empfehlen. Die Filmakademie Baden-Württemberg ist die beste Filmschule in Deutschland und eine der besten Adressen in ganz Europa, was man auch daran sieht, wie viele ihrer Absolventen Preise bekommen. Schon allein mehr als die Hälfte aller Filmkomponisten, die in Deutschland ausgezeichnet wurden, haben in Ludwigsburg studiert.“
2005 schloss Natalia Dittrich mit dem Diplom ab, vertonte in den Folgemonaten noch ein paar Diplomfilme ihrer Kommilitonen und bekam schon 2006 ihr erstes größeres externes Projekt: Den deutschen Kinofilm HÄNDE WEG VON MISSISSIPPI (2007, Regie: Detlev Buck). „Den Kontakt zu Detlev Buck konnte ich noch zu Studienzeiten herstellen. Ich hatte 2003 einen Animationsfilm der Aka vertont, der unter anderem auch in München auf einem Festival lief, wo Detlev Buck in der Jury saß.“ Bei dem anschließenden Empfang habe er sie angesprochen. „’Junge Lady’, sagte er, ‚ein paar Mal musste ich während des Films mit den Tränen kämpfen, ich glaube wirklich, wir sollten zusammenarbeiten.’ Ich lachte und erwiderte: ‚Ach, weinen Sie doch nicht, es wird schon alles gut.’ Wir haben Visitenkarten ausgetauscht, und zwei Jahre später rief er an und engagierte mich für seinen Film.“ HÄNDE WEG VON MISSISSIPPI ermöglichte es Natalia Dittrich, sich direkt nach dem Studium mit ihrer Musik einem großen Publikum zu präsentieren und bescherte ihr gleich 2008 den Rolf-Hans-Müller-Preis für Filmmusik. „Ich war die erste Frau, die diesen Preis überhaupt bekommen hat, das hat mich natürlich sehr gefreut.“ Mit dem Regisseur Detlev Buck verbindet sie bis heute eine sehr gute Freundschaft. „Mit den meisten Regisseuren arbeite ich mehr als einmal zusammen, ein freundschaftlicher Umgang ist mir sehr wichtig. Es ist schön, mit Leuten zusammenzuarbeiten, die einem vertrauen“, sagt sie.
2010 zog Natalia Dittrich nach Berlin. „Dort habe ich einen Spielfilm und viel Werbung vertont und konnte meine Agentur und meinen Musikverlag näher kennenlernen, das war sehr gut. Trotzdem wurde ich irgendwann der Stadt überdrüssig. Baden-Württemberg war meine erste Heimat in Deutschland, und irgendwie habe ich mich immer zurückgesehnt. Also bin ich 2013 wieder zurückgezogen.“ Jetzt lebt sie in der Vorstadt von Schorndorf, in unmittelbarer Nähe zum Wald und geht fast jeden Tag dort wandern, spazieren oder joggen. „Heutzutage ist es ja egal, von wo aus du als Filmkomponist arbeitest“, sagt sie. „Du könntest in der Antarktis wohnen, wenn du dort Strom und Internet hast.“
Neben ihrer Tätigkeit als Filmkomponistin produziert sie andere Künstler in ihrem Studio, komponiert Orchestermusik und gibt Geigenunterricht. „Ich kann nicht nur im Studio sitzen, ich brauche Leute um mich herum, die mit mir musizieren, zuhören und auf meine Musik reagieren. Als Komponistin bist du eine Person ohne Gesicht.“ Auch das Musizieren im Ensemble mache ihr sehr großen Spaß. „Während meines Studiums in Ludwigsburg habe ich in einer irisch-schottischen Band mitgespielt, das war super. Man wird vielleicht nicht reich davon, aber ich brauche das gemeinsame Musizieren einfach.“
Als Filmkomponistin auf dem Markt zu bestehen und gut zu verdienen, sei immer schwerer, so Dittrich. Es werde immer weniger Geld investiert, jedes Honorar werde von der Produktion noch schlanker gemacht. „Wenn das Honorar in überhaupt keinem Verhältnis zur Leistung steht, darf man das nicht annehmen. Ich musste deshalb vor kurzem einen „Tatort“ absagen. Solche ‚Low-Budget-Angebote’ sind keine Seltenheit, aber unter diesen Bedingungen darf man nicht arbeiten.“
Ein leeres Blatt Papier mit Notenlinien und ein Stift müssen bei Natalia Dittrich immer in unmittelbarer Nähe zum Bett liegen, denn es kann schon mal vorkommen, dass sie im Schlaf die zündende Idee für eine Filmmusik hat. „Manchmal träume ich meine Kompositionen zuerst. Bei meinem letzten Kinofilm SCHATZRITTER UND DAS GEHEIMNIS VON MELUSINA (2012, Regie: Laura Schroeder) habe ich das Thema meiner Musik zuerst komplett geträumt, habe mich dann nach dem Aufstehen gleich an meinen Computer gesetzt und das Stück eingegeben. Zuerst wusste ich nicht, ob es das Stück schon gibt oder wo ich das her habe. Aber meine Komponistenkollegen, die ich gefragt habe, haben mir dann bestätigt, dass es dieses Stück vorher noch nicht gab. Plötzlich ist die Idee einfach da, manchmal auch im Schlaf.“
Autorin: Meike Katrin Stein