Matthias Fleischer, Absolvent Bildgestaltung/Kamera (2003)
Mit Herz und Verstand
Wir schreiben das Jahr 2015: Zweieinhalb Wochen Buenos Aires hat der Kameramann Matthias Fleischer hinter sich. Kein Urlaub, sondern Arbeit: Dort hat er den Film WAR CHILD farbkorrigiert. Jetzt ist er zurück und hat Zeit zu erzählen, wie das alles so kam - mit ihm und dem Film.
Matthias wächst im ummauerten West-Berlin auf, während sein Vater die Familiengeschichte auf Super 8 bannt. „Zusammen mit einem Kollegen hat er sich eine Super 8-Kamera gekauft und angefangen, unsere Familie zu filmen. Auf Familienfesten und auf Reisen hatten wir das immer um uns herum.“ Matthias experimentiert gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder, sie schneiden aus den aussortierten Filmschnipseln seines Vaters kurze Filme und vertonen sie. Nebenbei tüftelt er. Aus Legoteilen, einer Tesafilmrolle, einer Nähnadel und allem, was Matthias sonst noch so findet, bastelt er einen Filmbetrachter: Das kleine Gerät funktioniert zwar, ruiniert dabei aber gleichzeitig den Film. Mit vierzehn greift Matthias das erste Mal selbst zur Kamera, die er sich von seiner Mutter borgt, und dokumentiert den Ausflug seines Chors. In der Schule interessiert er sich für Naturwissenschaft: Mathe und Physik wählt er als Leistungskurse, will später Astronomie, Meteorologie oder Physik studieren. Ein Jahr vor seinem Abitur lernt Matthias Timm Brückner kennen, der seine Liebe zum Film teilt. Während Matthias bis zu diesem Zeitpunkt Film nur als Hobby begreift, sieht Timm, dessen Vater als Synchronsprecher arbeitet, darin auch einen möglichen Beruf.
Nach dem Abitur schreibt Matthias sich an der FU Berlin für Meteorologie ein. Er studiert zwei Monate lang und dreht dann mit Timm einen Film für die HFF Potsdam. „Danach war ich wieder so infiziert, dass ich nicht mehr zurück an die Uni gegangen bin.“ Matthias liebt die spontane, herzliche und fokussierte Zusammenarbeit am Set. Er hilft bei Produktionen aus, setzt sich in die Babelsberger Filmtheorie-Vorlesungen, bewirbt sich 1993 ohne Erfolg in Potsdam, jobbt anschließend als Beleuchter, Bühnenassistent, Oberbeleuchter und Kameraassistent. Vier Jahre später versucht er es mit einem Film, Marke Eigenregie, an der Filmakademie und verfehlt knapp die Zulassung. Eigentlich sei ihm damals schon klar gewesen, dass er nicht Buch, Kamera, Regie und Produktion gleichzeitig habe leisten können, sagt Matthias. Er wird Gasthörer in Ludwigsburg und holt sich für seinen zweiten Bewerbungsfilm an der Akademie Hilfe: „Da konnte ich mich auf die Kamera konzentrieren und war, ehrlich gesagt, auch das erste Mal zufrieden mit meinem Bewerbungsfilm.“ Er wird für den Studienschwerpunkt Bildgestaltung/Kamera in Ludwigsburg zugelassen und wähnt sich im Paradies:. „Ich bin da reingegangen und wusste, was ich die Dozenten, die gestandene Kameramänner und -frauen und Regisseurinnen und Regisseure waren, fragen möchte. Ich konnte sie alles fragen - nicht als Materialassistent, nicht als Beleuchter, sondern als Student für Kamera. Und ich hatte das Gefühl, ich stehe in den Startlöchern und brauche eine Chance zu drehen - die habe ich in Ludwigsburg bekommen.“ Über zwanzig Projekte realisiert Matthias, während er an der „Aka“ studiert. „Das, was ich an der Filmakademie gelernt habe, kann man einfacher in den Filmen sehen, die ich gemacht habe, als dass ich das in Worten wiedergeben kann“, sagt Matthias.
Wen er kennenlernt, ist nicht minder bedeutsam: Etwa den Regisseur Alain Gsponer, den Matthias als sehr visionären und visuellen Menschen beschreibt. Die beiden realisieren gemeinsam KIKI & TIGER, Alains Abschlussfilm, der großen Anklang findet. Dass noch acht weitere Spielfilme mit Alain bis heute folgen werden, weiß Matthias nicht, als er 2003 die Filmakademie mit seinem Diplom verlässt. Er ahnt, dass danach eine Durststrecke folgen könnte und wappnet sich: „Ich habe mir eine preiswerte Bleibe in Berlin gesucht, sparsam gelebt und musste das überdauern. Ich wollte nicht zurück in die Kameraassistenz, sondern unbedingt als Kameramann wahrgenommen werden, um einzusteigen.“ Seit längerem sind zwei Filme mit Alain in der Vorbereitung, doch die Realisierung verzögert sich immer weiter. Er hält sich mit Industriefilmen über Wasser, bis knapp zwei Jahre später die angekündigten Filme ROSE und DAS WAHRE LEBEN schließlich realisiert werden können. „ Als es endlich soweit war, sollten plötzlich gleich beide Filme gedreht werden, und Alain und ich hatten 2005 richtig viel zu tun.“ Anfang 2006 ist es noch sehr ruhig um Matthias, bis im Laufe des Jahres ROSE und DAS WAHRE LEBEN veröffentlicht werden. Eine Agentur spricht ihn an, es folgen weitere Projekte.
2009 dreht er mit Florian Cossen in Buenos Aires DAS LIED IN MIR. „Wir waren sofort auf einer Wellenlänge, was die Dramaturgie und Relevanz anging, einen Stoff zu erzählen.“ Matthias spricht damals kein Wort Spanisch, war vorher nie in Südamerika und fängt mit einem vollkommen fremden Blick die morbide Schönheit, die Vergänglichkeit der argentinischen Hauptstadt ein. Für seine Arbeit wird er für den Deutschen Filmpreis nominiert und erhält 2011 den Bayerischen Filmpreis in der Kategorie Kamera. Mit dem Goethe-Institut reisen er und Cossen zu etlichen Vorführungen weltweit und verfolgen nach den Vorstellungen angeregte Diskussionen. Eine Auszeichnung sei zwar eine wunderschöne Bestätigung, sagt Matthias. Zu sehen, was der Film mit den Menschen mache, sei für ihn allerdings die größte Anerkennung. „Mir ist wichtig, mich immer wieder zu fragen, was machst du eigentlich - warum und für wen? Ich freue mich darüber, politische Filme machen zu können und dadurch Diskussionen anzustoßen, von denen ich denke, dass sie geführt werden müssen.“ Gemeinsam mit Florian Cossen hat er vor 2016 für neuen Diskussionsstoff gesorgt – mit dem dritten Teil DIE ERMITTLER – NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH der Trilogie NSU – MITTEN IN DEUTSCHLAND, der die Mordserie der rechtsextremistischen Vereinigung aus der Ermittlerperspektive aufrollt.
Autorin: Uta Schindler