Astrid Schult - Absolventin Dokumentarfilm

„Ich habe gleich gemerkt: Hier sind Macher. Da passe ich hin.“

Naziprozesse, Kinderarmut und Kriegstraumata – die Themen, derer sich Astrid Schult annimmt, verlangen der Autorin und Regisseurin viel Feingefühl ab. Ihre Filmkarriere begann sie als Kamerafrau; heute kostet sie alle Facetten des Dokumentarfilms aus.

Noch fünf Tage bleiben Astrid in ihrem Atelier auf Schloss Solitude in Stuttgart-Heslach. Über den Dächern der Stadt, umgeben von einer malerischen Landschaft und vielen anderen Kreativen, hat die 36-Jährige im Rahmen eines Stipendiums der Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg hier von Januar bis März 2015 und im Januar 2016 gelebt und gearbeitet. Das Stipendium ist eine von vielen Anerkennungen, die sie seit ihrem Diplom 2009 in Dokumentarfilmregie erhalten hat.

Die Faszination für das bewegte Bild hat Astrid relativ früh verspürt – ausgerechnet ein Fernsehfilm über Fußball zog sie mit seiner Bildgestaltung in den Bann, und sie fasste den Entschluss, Kamerafrau zu werden. Nach dem Abitur verbringt sie ein halbes Jahr in Kanada, wo sie ein erstes Praktikum beim Film macht. Über kleinere Jobs als Kameraassistentin und die Mitarbeit im Kameraverleih findet Astrid schließlich schnell in den Beruf hinein. „Ich war mittendrin und habe auch gut damit verdient“, erzählt sie rückblickend.

Um sich auch theoretisch mit ihrer Leidenschaft auseinanderzusetzen, bewirbt  Astrid sich 2003 an der Filmakademie für den Studienschwerpunkt Bildgestaltung/Kamera. Und wird angenommen. Der Umzug von Berlin nach Ludwigsburg steht damit fest, denn: "Schon beim Auswahlgespräch habe ich mich richtig wohl gefühlt auf dem Campus. Ich habe gemerkt: Hier sind Macher. Da passe ich hin."

Es folgen fünfeinhalb intensive Jahre – und die Erkenntnis, dass die Regie Astrids eigentliche Leidenschaft ist. Sie stellt sich erneut dem Auswahlverfahren der Filmakademie und wechselt 2005 ins Projektstudium Dokumentarfilmregie. Um als Kamerafrau nicht alle Zelte abzubrechen, unterstützt sie den Dokumentarfilm GYSI UND ICH als Bildgestalterin. Danach konzentriert sie sich auf die Regiearbeit.

Bereut hat sie diesen Wechsel nie: „Ich habe in meinem Leben öfter einen neuen Kurs eingeschlagen, manchmal sollte man seinen Impulsen folgen“, erklärt Astrid. Ab einem gewissen Punkt sei ihr die Kameraarbeit zu technisch geworden – denn es war schon immer der Dialog mit Menschen, der sie am Film so faszinierte.

Ihr erster Dokumentarfilm in Eigenregie startet direkt mit hohen Erwartungen: Mit ihrem Treatment gewinnt Astrid die Ausschreibung des sogenannten „Thomas Schadt-Topfes“ – ein Fördergeld, das der Akademiedirektor seinerzeit ausschrieb. ZIRKUS IS NICH erzählt die Geschichte von Dominik, einem damals 8-jährigen Jungen aus Berlin-Hellersdorf, dessen Alltag von Armut und Einsamkeit geprägt ist. Später wird der Film auf der Berlinale gefeiert, die Medien interessieren sich für Astrids Arbeit. "Diese Aufmerksamkeit ist für Dokumentarfilmer sehr wichtig", sagt sie, "aber ich muss nicht über jeden roten Teppich gehen."

Die Zeit an der Filmakademie verbindet Astrid vor allem mit einem „ganz großen Gemeinschaftsgefühl“ – in der Gruppe einen Film gestemmt zu haben, schweiße unheimlich zusammen. Auch heute arbeitet sie eng mit ehemaligen Kommilitonen zusammen. Gunter Merz (Absolvent des Studienschwerpunkts Dokumentarfilm) steht ihr als Co-Autor und Kameramann zur Seite, und Sebastian Bäumler (Absolvent des Studienschwerpunkts Bildgestaltung/Kamera) brachte seine Handschrift bei der Bildgestaltung von Astrids Langfilmen ein.

Naziprozesse, Kriegstraumata, Rufmord und die konservative Tea Party: Ein Auszug aus Astrids Themenspektrum beweist, dass sie schwierige Sujets nicht scheut. Wie sie diese Themen aufspürt? „Das ist jedes Mal anders. Mal erzählt mir jemand etwas Interessantes, ich lese irgendwo davon oder schnappe bei Protagonisten meiner anderen Filme etwas auf.“ In die Recherche, die daran anknüpft, investiert Astrid viel Geduld und Hartnäckigkeit: „Netzwerke aufbauen, viel lesen und sich in das Thema reinarbeiten“ – jedes Mal aufs Neue. Die wohl kniffligste Recherche in Astrids Karriere war die zu ihrem Diplomfilm DER INNERE KRIEG. Darin porträtiert sie Kriegsveteranen und deren Angehörige auf dem Stützpunkt im US-Militärkrankenhaus in Landstuhl. „Der Film bedeutet mir sehr viel. Im Nachhinein ist es mir echt ein Rätsel, wie das alles geklappt hat“, sagt sie über den mehrfach ausgezeichneten Dokumentarfilm, der unter anderem für den Grimme-Preis nominiert war. Zwei Jahre Arbeit stecken darin – und das Thema beschäftigt Astrid noch heute: „Es gibt Filme, die sich schon während des Drehs mehr oder weniger abgeschlossen anfühlen, weil man glaubt, alles über das Thema zu wissen“, sagt sie, „und dann sind da jene Themen, die dich nach der Fertigstellung des Films mit noch mehr Fragen zurücklassen.“

Bei Themen wie diesen ist Feingefühl ein Muss. Astrid findet es zum Beispiel wichtig, ihren Protagonisten den Film vor der Veröffentlichung zu zeigen. „Bisher haben sich eigentlich alle in irgendeiner Form darin wiedergefunden“, erzählt sie, „noch keiner fühlte sich von mir falsch dargestellt.“ Zu vielen ihrer Protagonisten hält Astrid auch Monate oder gar Jahre nach Drehschluss Kontakt. Man dürfe sich da als Filmemacher aber auch nichts vormachen: „Man verbringt natürlich eine gewisse Zeit miteinander, doch nicht mit jedem will ich hinterher in Kontakt bleiben.“

Im Januar 2016 lief Astrids Feature RUFMORD in der Reihe MENSCHEN HAUTNAH des WDR. Noch eine Erfahrung, die sie nicht missen möchte. Überhaupt: Astrid hat Freude daran, über Formatvorstellungen und Schubladen hinweg zu arbeiten. Sie will sich weder auf ein Themenfeld noch auf ein Genre festlegen. Derzeit arbeitet sie an einem experimentellen Dokumentarfilm, einer Art Spurensuche, was vom Menschen bleibt, wenn er gestorben ist. Ein Thema, das biografische Bezüge haben dürfte: Letztes Jahr ist Astrid Mutter geworden.

Autorin: Ana-Marija Bilandzija